2. Zur Situation von Opfern von Straftaten

2.1. Allgemeine Situation

Historisch betrachtet gerieten bei dem Bestreben, Tatverdächtigen, Beschuldigten und Angeklagten einen fairen Prozess zu sichern, die Rechte des Opfers immer wieder in den Hintergrund.

Diese Benachteiligung von Opferbelangen spiegelt sich auch in der sozialen Arbeit wieder. Die Wurzeln der bestehenden zahlreichen sozialen Dienste der Justiz - Gerichtshilfe bei der Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe bei den Gerichten, Sozialarbeit im Strafvollzug - reichen bereits bis ins letzte Jahrhundert zurück. Sie arbeiten vorwiegend auf den Täter ausgerichtet.

Erst vor einigen Jahrzehnten begann demgegenüber die wissenschaftliche Beschäftigung mit Opfern von Straftaten (Viktimologie). Opferschutz und Opfer­beratung als selbstverständliche staatliche Pflichtaufgabe werden sowohl von politischen Parteien als auch von Vertretern aus Polizei und Justiz gefordert. Bisher mangelt es aber größtenteils an der praktischen Umsetzung.

Gesetzesgrundlagen für eine Verbesserung der Situation der Opfer schufen das Opferschutzgesetz, das im Dezember 1986 in Kraft trat, und das Opferent­schädigungs­gesetz (OEG) vom 15. Mai 1976.

Die alltägliche Lebenswirklichkeit ist jedoch weiterhin geprägt von einer gesell­schaftlichen Situation, in der die Belange von Opfern von Straftaten wenig Berücksichtigung finden oder bestehende Rechte nur mit großer Mühe verwirklicht werden können.

Im Rechtssystem wird das Opfer in der Regel zum bloßen Beweismittel instrumentalisiert. Das Opferschutzgesetz erweiterte zwar die Schutzvorkehrungen für das Opfer in seiner Eigenschaft als Zeuge im Strafverfahren. Diese wurden aber vorwiegend in "Kann - Bestimmungen" geregelt, über die in jedem Einzelfall neu entschieden wird. Praxisberichte weisen aus, dass sich die Umsetzung eines besseren Opferschutzes seit Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes nur schleppend vollzieht.

Kaum geändert haben sich die Informationspraktiken von Gerichten und Polizei. Opfer erhalten nur schwerlich Informationen über Strafverfahren, in denen über die ihnen zugestoßene Tat verhandelt wird. Wenn sie nicht gleichzeitig als ZeugInnen oder NebenklägerInnen auftreten, erfahren sie nicht einmal den Zeitpunkt der Hauptverhandlung. Auch über das Urteil werden sie nicht informiert. Akteneinsicht erhalten sie nur in nebenklage­fähigen Delikten unter Einschaltung eines Rechtsanwalts.

Das Opferentschädigungsgesetz (OEG) sorgt für eine Kostenübernahme von Heilbehandlungen bzw. Rentenzahlungen im Falle einer gesundheitlichen Schädigung durch einen tätlichen Angriff. Es schließt aber gleichzeitig viele Opfer von Gewalttaten von solchen Leistungen aus. Erfahrungen zeigen, dass viele Versorgungsämter die Richtlinien sehr eng auslegen. Häufig müssen Betroffene vor Gericht ihre Ansprüche einklagen. Die Beweislast trägt das Opfer (eine Ausnahme gilt nur für sexuellen Missbrauch von Kindern).

Letztendlich stellt nur etwa ein Viertel der Betroffenen einen Antrag nach dem OEG von denen weit weniger als die Hälfte anerkannt werden.

2.2 Psychosoziale Situation

Opfer krimineller Handlungen erleiden häufig einen Vertrauensverlust in die Funktions­fähigkeit gesellschaftlicher Instanzen, die ein Schutzgefühl vermitteln sollen, und erfahren eine massive persönliche Verunsicherung und Veränderung der eigenen Lebensperspektive. Je nach Schwere und Deliktart sind die Auswirkungen bei den betroffenen Opfern sehr unterschiedlich.

Neben den materiellen und körperlichen Schädigungen zählen die psychischen Verletzungen zu den gravierendsten Folgen einer Straftat. Gerade Opfer schwerer Gewalttaten, die von einem starken Macht - Ohnmachtgefälle zwischen Täter und Opfer geprägt sind, leiden eher und nachhaltiger unter emotionalen Traumata.

Die Symptome, oft mit einem Gefühl tiefer Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit verbunden, können sich in Form von Schlafstörungen, Angstzuständen und -träumen, allgemeiner Nervosität und Unruhe, heftigen Kopfschmerzen, Übelkeit, Erschöpfungszuständen, Gedächtnisschwäche und Konzentrationsstörungen äußern. Eine verstärkte Krankheitsanfälligkeit kann häufig, vor allem bei älteren Menschen, beobachtet werden. Hinzu kommen Gefühle von Demütigung, Scham, Schuld, Hilflosigkeit und von Angst, alleingelassen zu sein.

Im Verhalten kann dies zu sozialer Isolation, zu allgemeinem Rückzug und zur Depression mit den beschriebenen psychosomatischen Reaktionen führen. Weitere bedeutende Elemente sind häufig sich wiederholende und eindringliche Erinne­rungen an das Ereignis, Assoziationen von Gelegenheiten und/oder Personen, die an das Geschehen erinnern, und ein daraus resultierendes reduziertes Interesse an außengerichteten Aktivitäten verbunden mit einer übergroßen Vorsicht. Die Unwissenheit über die Umgehensweise mit den Folgen einer Straftat verstärkt bei den betroffenen Opfern Gefühle von Unsicherheit und Instabilität.

Der Verarbeitungsprozess kann modellhaft in verschiedene Phasen aufgeteilt werden und stellt sich wie folgt dar:

In der ersten Phase: erfährt das Opfer den Schock, Misstrauen und Gefühllosigkeit verbunden mit Kontrollverlust; dies ist dem Opfer aber nicht unbedingt anzumerken.

In der zweiten Phase: fühlt das Opfer Furcht, Traurigkeit und Zorn; gleichzeitig existiert ein starkes Bemühen, die Kontrolle wiederzuerlangen und sich durch oberflächliche Anpassung den Erfordernissen des Alltags zu stellen. Hilfsangebote werden häufig zurückgewiesen.

In der dritten Phase: werden in manchen Fällen die bisher verleugneten emotionalen Erschütterungen in fest umschriebene Symptome umgewandelt, um dann

In der vierten Phase: durch die Aufnahme der Auseinandersetzung mit der persönlichen Dimension des Geschehens zu einer Integration des Tatvorfalls in die eigene Lebensperspektive zu gelangen.

Dieses Modell ist idealtypisch für einen gelungenen Verarbeitungsprozess. Die jeweiligen Phasen können bei den Betroffenen unterschiedlich lange dauern, je nach Schwere der erlittenen Straftat von Tagen und mehreren Wochen bis hin zu Monaten und Jahren. Es ist durchaus möglich, dass einzelne Phasen übersprungen werden und der Verarbeitungsprozess nicht kontinuierlich verläuft.

Die bisher kurz beschriebene Situation des Opfers verdeutlicht, welche massiven krisenhaften Auswirkungen dies für das Selbsterleben, Selbstbild und Selbstwert­gefühl des Opfers haben kann. Die in vielen Situationen notwendige bedingungslose Unterwerfung unter den Täterwillen bewirkt ein besonders massives Unwert- und Unfähigkeitsgefühl gegenüber der eigenen Person. Aber auch entsprechende Emotionen wie Trauer, Wut und Hassgefühle spielen eine wichtige Rolle. Diese Gefühle können von den Betroffenen oft nicht zugelassen werden.

In der Beratungssituation kann es nun nicht darum gehen, einen Zustand wie vor der Viktimisierung wiederherzustellen, sondern es muss gelingen, diese Erfahrung in das Selbstkonzept zu integrieren und damit zu einer Neuentwicklung der Lebensperspektive zu gelangen.

2.3. Gefahr der Sekundären Viktimisierung

Sekundäre Viktimisierung bezeichnet die "Verschärfung des primären Opferwerdens durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums des Opfers und der Instanzen der formalen Sozialkontrolle, z.B. der Polizei und Gerichte" (Schneider, Hans-Joachim).

Schädigende Reaktionen umfassen Verhaltensweisen der sachbearbeitenden Behörden, der Angehörigen und des weiteren sozialen Umfeldes der Betroffenen, die meist nicht übelwollend gemeint sind, sondern mangels besseren Wissens oder aus unbewussten Motiven heraus entstehen. Sie liegen beispielsweise vor, wenn dem Opfer direkt oder indirekt Mitschuld am Tatgeschehen unterstellt wird, wenn ihr Leiden bagatellisiert oder Witze über das Geschehen gemacht werden.

Opfer bedrohen uns. Sie wecken den beunruhigenden Gedanken, dergleichen könnte uns auch passieren und erschüttern damit unsere Illusion von Sicherheit. Tiefenpsychologisch betrachtet neigen Personen, die in engem Kontakt zu Opfern stehen, manchmal dazu, Opfer abzulehnen, die sie mit eigenen Schwächen und Erlebnissen der Hilflosigkeit in Berührung bringen und Schuldgefühle in ihnen erwecken. Darüber hinaus erinnern sie auch an eigene Destruktivität und eigene Schuld. In diesem Sinne können Mitschuldvorwürfe auch als eine Rationalisierung der eigenen Aggressionen, der eigenen Schuldgefühle oder von Ängsten verstanden werden.

Andere Formen der sekundären Viktimisierung sind Bagatellisierungen: "Ist doch nicht so schlimm - stell dich nicht so an" und übertriebene Überfürsorglichkeit. Dem Opfer wird damit das Recht auf seine Empörung, Wut, Angst und auf seine individuelle Verarbeitungsweise abgesprochen. Um sekundärer Viktimisierung entgegenzuwirken, ist Information und Aufklärung bei mit Opfern beruflich befassten Personen und Gruppen, bei Institutionen und Angehörigen eine wichtige Aufgabe (siehe hierzu auch Kap. 3.2.5. und 3.2.6.).

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